Struktur, Baby. Struktur!

Nach einem Alkoholentzug im Rahmen
eines stationären Aufenthaltes so weiter machen zu wollen und das
Leben so weiter zu gestalten wie zuvor – nur halt ohne Alkohol-,
ist ein sinnloses Unterfangen mit keinerlei Zukunftsperspektive.
Nach einem stationären
Entzugsaufenthalt bedarf es einer neuen Struktur von Leben, Arbeit
und zeit. Die Psychotherapeuten unter uns nennen dies strukturelle
und funktionale Verhaltensänderung, Auf gut Deutsch würde man
sagen: "Teil Dir Dein Leben und Deine Zeit gscheit ein" Dann
ergeben sich neue und veränderte Räume für Leben, Arbeit und Zeit
wie von selbst.Jedoch wisen wir aus der kognitiven
Verhaltenspsychologie, dass Veränderungen - in diesem Fall der
Tagesstruktur und des Zeitmanagement - vor allem eines brauchen:
nämlich Zeit.
So benötigt die Etablierung von neuen
Tages- und Zeitstrukturen laut Pschologen und Psychotherapeuten bis
zu 90 Tage, also drei Monate.
Und: Es bginnt mit kleinen Schritten.
(aber) dabei könnte Veränderung einfach beginnen, indem wir zuerst
die Zeitrahmen für Aufsteh- und Schlafenszeit sowie die Zeiträume
für Frühstück, Mittagessen und Abendessen definieren. Betonung:
Zeitrahmen.
Also beispielsweise Aufstehen zwischen
sechs und sieben Uhr morgens. Nicht unbedingt Punkt 6 Uhr 30. Die
Zeit dazwischen füllen bzw. zum nächsten Fixpiunkt füllen wir mit
sinn-stiftenden Aktivitäten, egal ob man in einem Arbeitsverhältnis
steht, als Freelancer arbeitet oder arbeitssuchend oder Pensionist
ist. Erfahrungsgemäß stehen jedoch alkoholkranke Menschen selten in
einem aufrechten Arbeitsverhältnis. Es würden Kraft und
Durchhaltevermögen fehlen. Und ein acht- oder zwölfwöchiger
stationärer Entzugsaufenthalt wäre so kaum möglich.
Etwas Sinnstiftendes zu tun, bedeutet
nun nicht zwingends, die Welt zu retten , die Probleme der Klimakrise
zu lösen oder den Palästina- oder Ukrainekrieg zu beenden. Es
bedeutet, etwas zu tun, was einem Spaß macht und mit Spaß sich der
Sinn für einen selbst ergibt. Den Hund ausführen, Blumenbeet und
Gemüsepflanzen zu gießen, Geschirrspüler einräumen, das Fahrrad
saisonbedingt im Frühjahr fahrbereit ind im Spätherbst winterfest
zu machen.
Sinnstiftendes zu tun, bedeutet,
nachhaltig für den eigenen Geist, die Psyche zu leben. Der Hund
freut sich über den Spaziergang, Blumen blühen farbenfroh nach dem
Gießen, das Gemüse sprosst und gedeiht, das Geschirr ist wenige
Stunden später wieder sauber, und durch gute Wartung des Fahrrades
wird seine Lebensdauer verlängert.
Spaß und Freude haben ind er
kognitiven positiven Psychologie - no na - einen hohen Stellenwert.
Bedeutet aber nicht, daß man den ganzen Tag mit einem - oftmals
erzwungenen - lachenden Gesicht herum laufen muss oder soll. Aber,
sich nach dem Aufwachen auf etwas freuen zu können, erhellt den Tag.
"Binsenweisheiten" eigentlich, aber, sag das mal einem Trinker.
Freude, ach Freude. Und sei es "nur", in den Garten zugehen, Lilien zu schneiden, in die Vase stellen und damit Wohnzimmer und Küche zu behübschen. Auf den ersten Blick eine Kleinigkeit, wirkt aber insofern Wunder, als man tätig ist und so die Gedanken an Alkohol rasch vergisst. So kann man erhellt durch den Tag, durch die frische Luft und den Duft der Lilien-Blüten gehen.
Tatsächlich war es schwierig, den
Tages-Rhythmus umzustellen und so was von einer (neuen) Struktur
hinein zu bringen. Obwohl, ich hatte ja keine Struktur, der Alkohol
hielt mich eindringlich davon ab, irgendeinen Rhythmus oder eine
Struktur in mein Leben zu bringen.
Bisher war meine erste und einzige
wichtige Begebenheit des Tages, um 7 Uhr 15 morgens zuerst Zigaretten
zu besorgen um nachfolgend den Supermarkt für eine Flasche Wodka
heimzusuchen. Und ja, der Hud musste gefüttert und zumindest einmal
am Tag durch die Wiesen und felder bewegt werden. Ansonsten galt der
Tag dem Alkohol, den Dahinschlafen vor dem Fernseher, Rauchen und
Pinkeln gehen. Essen kann, oder muss nicht sein, wie der gelernte
Alkoholiker weiß.
Und falls ich es schaffte, die morgenss
erworbene Flasche Wodka leer zu trinken, wankte ich nochmals zum
Supermarkt, um Nachschub zu besorgen. Nichts Schlimmeres für eine
Süchtigen, als keinen Stoff mehr zu Hause zu haben.
Für den Anfang - unmittelbar nach
Ende des stationären Entzugsaufenthaltes - hatte ich viel Zeit für
den Hund eingeplant, hatte einen Aufsteh-Zeitrahmen definiert sowie
die täglichen Pflichten in Haushalt und Garten festgelegt.
Das eher frühere Aufstehen hat mir
übrigens keinerlei Mühe bereitet. Seit dem Entzugsaufenthalt war
ich unter die Frühaufsteher gegangen. Zuvor hinderte mich ohnehin
der Alkoholkonsum an der Etablierung eines vernünftigen
Schlaf-/Wach-Rhythmus.
Die Zeit zwischen den auferlegten
Aufgaben fülle ich mit Schreiben, dem Entwickeln von
Medien-Konzepten und-Formaten. Täglich ein Kapitel für ein
kommendes Buch. Alles weitere ist Übung zur Etablierung einer neuen
Struktur.
Wobei der Faktor Zeit ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt im Leben eines Alkoholikers – mit Ausnahme der Öffnungs- und Ladenschluß-Zeiten eines Supermarktes. Der Faktor Zeit wird für einen Alkoholiker zunehmend zu einer wabbeligen, vernebelten Suppe, in der man dahin vegetiert. Und die Blase wird immer größer, bis man darin ertrinkt.
Illustration: Bernd Klaus Achter
Hasttags: #Alkohol #Alkoholiker #Wodka #Tagesstruktur